von Mikita Franko
Klappentext:
Mikita wird nach dem Tod seiner Mutter von ihrem Bruder adoptiert, er ist fünf Jahre alt. Mit Slawa und dessen Partner Lew genießt er eine fröhliche Kindheit. Aber mit der Einschulung beginnt das Versteckspiel, das Lügen. Wenn Besuch kommt, müssen Fotos weggeräumt, in Aufsätzen müssen Dinge verschwiegen oder erfunden werden, und Mikita schlagen Vorurteile entgegen. Er verliert seinen Frohsinn, wird wütend, aggressiv, depressiv.
Erst die Freundschaft mit einem Jungen aus dem Waisenhaus beruhigt ihn. Und dann merkt er, dass er sich zu Jungs hingezogen fühlt. Ausgerechnet! Er beschuldigt sich, zum Beweis für die Propaganda geworden zu sein, die behauptet, gleichgeschlechtliche Paare würden homosexuelle Kinder großziehen. All seine Versuche, sich in Mädchen zu verlieben, scheitern. Es wird noch dauern, bis Mikita Frieden mit sich selbst und seiner Sexualität findet.
Die Lüge ist ein ausgesprochen unterhaltsames Debüt, schnörkellos und am Puls der Zeit.
Bild: © BuchsüchtigQueerblog Bild: © BuchsüchtigQueerblog
Cover: © Rothfos & Gabler nach einem Originalentwurf von © Maxim Balabin, 2020; Bildmaterial: © LuviiiLove, 2020
Meine Meinung:
Dass Miki mit fünf Jahren schon hintersinnige Geschichten schrieb, kam mir etwas unglaubwürdig vor und ich konnte das nicht so ganz einordnen. Auch, dass in einem Land wie Russland die Beziehung seines Onkels und dessen Lebensgefährten so normal war, kam mir etwas unglaubwürdig vor, wenn man die derzeitige Situation von LGBTI in Russland bedenkt. Ich glaube, dass Miki mit seinen Vätern das große Los gezogen gezogen hatte, sie liebten ihn und behandelten ihn nicht wie ein kleines dummes Kind, sondern geben Ihr Bestes, um aus ihm einen eigenständigen Menschen zu machen. Die Probleme beginnen, als Miki zur Schule kommt und sich plötzlich Wahrheit und Lüge gegenüberstehen. Mikis Verwirrung darüber, seine Familie nicht benennen zu dürfen, tat mir unendlich leid, aber ich konnte auch seine Eltern verstehen. Ein falsches Wort, oder in diesem Fall ein ehrlicher Aufsatz, und nichts wäre mehr so, wie es ist. Über der Familie schwebt ohnehin schon ein Damoklesschwert und seine Eltern sind sich dessen sehr wohl bewusst. Die Gesellschaft, in der sie leben empfinden sie als kalt, gewalttätig und intolerant und sie wollen am liebsten ausbrechen. Das konnte ich absolut nachvollziehen. Wer will denn so leben? In einer Welt, in der man ständig lügen und aufpassen muss, was man sagt und tut.
Miki will es scheinbar nicht mehr, denn er gerät aufgrund dieses Themas mit einem seiner Väter aneinander und die Situation entgleist zusehends. Er wünscht sich ein „normales“ Leben aber ich glaube, er hatte nur die Lügen und das Versteckspielen satt und hätte normal mit seinen Väter weiterleben können, wenn nur die Situation eine tolerantere gewesen wäre. Zwangsläufig eskaliert die Situation und es zeigt sich, dass die geheimen Wünsche nicht immer gut sind. Aber seine Eltern sind es. Sie kümmern sich liebevoll und vorbildlich um ihn und er wächst sehr geborgen und umsorgt auf. In meinen Augen haben sie alles richtig gemacht und Ihr Menschenmöglichstes getan. Und das alles in einer Umgebung, die ihre Beziehung verurteilt und herabwürdigt. Ein täglicher Kampf um Normalität.
Es gab eine Szene mit Mikis Großmutter, die mich wahnsinnig machte. Sie verhält sich übergriffig, unreif und despotisch Miki gegenüber, missachtet und ignoriert seine Wünsche, Einwände und Forderungen und ich hätte schreien wollen, weil sich diese Frau Sachen herausnahm, die ihr nicht zustanden und Miki damit in eine Krise stürzte, die ein Kind in seinem Alter niemals durchmachen sollte. Und wieder ist es einer seiner Väter, der ihn auffängt, ihm Halt gibt, ihn beschützt und auf ihn achtet. Und der Strudel um Miki dreht sich immer schneller und schneller.
Er wirkte unglaublich verloren und einsam, obwohl er das überhaupt nicht ist. Er hat Freunde und seine wunderbaren Eltern, die wirklich alles für ihren Sohn geben und doch bleibt da eine innere Zerrissenheit in Miki, die ihm das Leben unendlich schwer macht und der er außer Wut und Gewalt nichts entgegenzusetzen hat. Er verzweifelt an sich selbst, an seinen Taten und Gedanken und es muss so wahnsinnig schwer für ihn gewesen sein, weiterzuleben. Ohne seine Eltern hätte es ein schlimmes Ende mit ihm nehmen können, doch seine Väter wachsen mehr als einmal über sich hinaus. Sie lieben ihren Sohn unendlich und ohne diese Liebe hätte Miki keine Chance gehabt. Er wäre entweder auf die schiefe Bahn geraten, oder umgekommen.
Es tat mir leid zu lesen, dass Miki einen Haufen Probleme mit sich herumtrug und diese auch nicht so einfach wieder loswurde. Es bekommt Hilfe auf verschiedene Arten und kämpft trotzdem einen scheinbar sinnlosen Kampf. Zwar gibt es auch Lichtblicke in seinem Leben, aber generell wurde dieses mit der Zeit immer dunkler und bedrückender. Die Dinge ändern sich für ihn und Verschiedenes ist ihm nicht mehr möglich. Bis es doch zu einem Lichtblick kommt und Mickis Hilfe gefordert ist. Er hat die Möglichkeit etwas eher Gutes und Wertvolles zu tun und zieht alle Register, um sein Ziel zu erreichen.
Mir hat das Buch gefallen, auch wenn zwischen Miki und mir bis zur letzten Seite etwas Abstand blieb. So ganz konnte ich ihn nicht fassen und doch mochte ich ihn irgendwie. Für mich war Miki auf einer Reise zu sich selbst. So wie wir alle irgendwann uns selbst suchen, so ging es auch Miki. Ich mochte es sehr, dass er kein reiner Sympathieträger ist, der nur gut, anständig und heldenhaft daherkommt. Er kann ein richtiges Arschloch sein, Fehler machen, dumm handeln und doch gibt es immer wieder Momente, in denen er ganz wundervoll ist, menschlich und normal. Das war einer der Punkte, die ich an der Geschichte sehr mochte. Es ist keine Liebesgeschichte im klassischen Sinn und trotzdem steckt zwischen den Seiten sehr viel Gefühl. Man muss es nur erkennen wollen.
Erscheinungsdatum: 3. Mai 2022 im Hoffmann und Campe Verlag
Seitenzahl Taschenbuch: 384